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Lernen im Alter – der Zwang fällt weg

Lernen im Alter erhält in Zeiten des demografischen Wandels einen neuen Stellenwert. An der Fernuniversität Hagen forscht und lehrt die Erziehungswissenschaftlerin Dr. Renate Schramek zur Altersbildung unter der Prämisse des lebenslangen Lernens. Außerdem ist sie Mitbegründerin und stellvertretende Direktorin des Forschungsinstituts Geragogik e.V. (FoGera) in Düsseldorf, das sich mit dem Thema „Lernen und Bildung in alternden Gesellschaften“ befasst.

Geragogik. Mit diesem Begriff wissen derzeit vermutlich nur Eingeweihte etwas anzufangen. Klären Sie uns bitte auf.

Bildung im Alter und Alternsbildung sind die gebräuchlichen Begriffe. Geragogik ist die wissenschaftliche Disziplin. Der Begriff Geragogik leitet sich aus dem Griechischen her von Geraios/der Alte und Ago/den Weg zeigen. Geragogik befasst sich mit Lernen und Bildung im Alter sowie mit der Gestaltung von Bildungs- und Lernprozessen zwischen den Generationen. Sie widmet sich dem Lernen älterer Arbeitnehmer im Betrieb, zum Beispiel in altersgemischten Teams oder in Fortbildungen.

Auch gehört dazu das Lernen im hohen Alter – bis zum Lebensende und das Lernen für das Alter. So schließt es ebenso die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Fachkräften ein, die mit älteren Menschen arbeiten. Dabei verstehe ich unter Lernen und Bildung – das ist Konsens in der Disziplin – alle Prozesse, die mit der Aneignung oder Erweiterung von Fähigkeiten oder Fertigkeiten, Erfahrungen, Wissen und Verstehen zu tun haben. Lernen steht hier in engem Zusammenhang mit Handlung und Reflexion. All dem liegt ein weit gefasster Lernbegriff zu Grunde.

Wir lernen im Grunde das ganze Leben. Wozu dann noch eine spezielle Wissenschaft vom Lernen im Alter?

Sie haben Recht. Lernen vollzieht sich schon immer eingebettet in das soziale Umfeld als eine natürliche Begleiterscheinung des täglichen Lebens – wir sprechen hier vom Lernen in informellen Kontexten – und im Alter trifft das noch viel mehr zu. Anders als in der Jugend und im Beruf geht es dann weniger um bestimmte Qualifizierungsnotwendigkeiten, Abschlüsse, Zertifikate, Beförderung oder um Erweiterung des eigenen Arbeitsfeldes. Die Intentionen und Motivationen beim Lernen neben und nach dem Beruf sind andere.

Was spornt Ältere an? Inwiefern verschieben sich dabei Akzente?

Die Gestaltung der eigenen Lebenszusammenhänge erlangt im Alter eine größere Bedeutung. Man lernt für eine selbstgewählte Tätigkeit, für ein Hobby, um gesundheitlich fit zu bleiben, aus Lust für ein Engagement oder einfach, weil bisher keine Zeit dafür war. Der Zwang zu lernen fällt augenscheinlich weg. Das ist allen Älteren gemeinsam. Die Lernmotive sind eher an die persönliche Lebenssituation und damit den eigenen Bedarf geknüpft. Angestoßen werden Lernprozesse im Alter nicht selten durch Neugierde oder Irritationen. Nach dem Motto: „Das kann ich mir anders denken.“ Ältere lernen oftmals selbstbestimmt und – was besonders ausgeprägt ist – bevorzugt im Austausch mit anderen.

Die zwischenmenschlichen Beziehungen nehmen einen noch stärkeren Raum ein und können zum Beispiel, wenn der Dozent nicht auf Zustimmung stößt, Lernprozesse auch stören. Damit bin ich bei Ihrer Ausgangsfrage. Weil sich Lernen im Alter unterscheidet, brauchen wir eine Wissenschaftsdisziplin, die sich mit Lernen im Alter und für das Alter und im Prozess des Alterns befasst, faktisch als Fortführung im Lebenslauf: von der Pädagogik in der Kindheit und Jugendzeit, über die Andragogik im jungen und mittleren Alter und bis zur Geragogik, die passende Konzepte und Lernarrangements für die ältere Generation entwickelt.

Lernkonzepte eigens für die älteren Semester – das provoziert die Frage nach dem immer noch viel zitierten „geistigen Abbau“ im Alter. Welche Erkenntnisse gibt es über die Leistungs- und Lernfähigkeit in dieser Lebensphase?

Die Neurobiologie beschreibt das Gehirn als ein aus einzelnen Teilen zusammengesetztes, anpassungsfähiges und plastisches Ganzes. Alles, was wir erleben, was über unsere Sinne auf uns einströmt, wirkt entscheidend darauf ein und beeinflusst unser Gehirn. Auch unsere sozialen Erfahrungen, unsere Beziehungserfahrungen, spielen hier eine besondere Rolle – auch sie führen zu strukturellen Veränderungen im Gehirn. Die Neurobiologie sagt auch, dass sich bis ins achte Lebensjahrzehnt neue Synapsen im Gehirn bilden können. Das Lebensalter – also das kalendarische Alter – ist folglich nicht allein oder primär bedeutsam für die Leistungsfähigkeit bzw. Veränderungsprozesse im Gehirn. Das haben ebenso Längsschnittstudien, zum Beispiel in der Psychogerontologie, schon vor vielen Jahren gezeigt. Auch Ältere verbuchen demnach noch Lernzugewinne, besonders wenn sie beim Lernen an Bekanntes und bisherige Erfahrungen anknüpfen können. Ein Leistungsabbau ist also nicht in erster Linie durch das kalendarische Alter erklärbar.

Aber es gibt doch augenscheinlich Unterschiede?

Was auf Schnelligkeit zielt und neu hinzugelernt werden muss, fällt mit zunehmendem Alter oftmals weniger leicht als in jüngeren Jahren. Also etwas „stur“ auswendig lernen, wie zum Beispiel Vokabeln, das geht in jüngeren Jahren einfacher und schneller. Natürlich kann man auch mit 80 Jahren beispielsweise noch Chinesisch lernen. Nur vielleicht nicht in dem Tempo wie mit 20 Jahren. Erfahrungen mit Einschränkung oder Abbau betreffen im Alter oft auch Seh- und Höreinbußen. Von einem „geistigen Abbau“ würde ich im Zusammenhang mit dem Alter jedoch nicht pauschal sprechen. Vielmehr kommt es darauf an, wie der Einzelne sein Leben lang gelernt hat. Deshalb lässt sich nicht pauschal sagen, ob beziehungsweise wie die Lernfähigkeit im Alter sinkt.

Woran macht sich die Lernfähigkeit des Einzelnen im Alter denn konkret fest? Was kommt gegebenenfalls besonders zum Tragen?

Die Lerngewohnheiten, die jeder in seinem Leben entwickelt, spielen eine wichtige Rolle: Ob man gewohnt ist zu lernen und sich immer wieder mit neuem Wissen auseinandersetzt oder ob man sich dem verschließt, weil man unangenehme oder schlechte Erlebnisse mit Lernen verbindet. Maßgebend ist auch das Leistungsniveau des Einzelnen. Auf hohem Niveau kann jemand mit 60, 70 oder 80 Jahren teilweise geistig mehr leisten als vielleicht ein anderer mit 30 Jahren. Unter Umständen fällt es dann nicht auf, wenn etwas im Alter langsamer geht. Hervorstechend ist in dieser Lebensphase immer wieder eine große Heterogenität: Wir haben es mit einer sehr großen Spanne in der Lebensgestaltung wie in den Leistungsbereichen zu tun, die mit zunehmendem Alter weiter wächst.

Heißt das, wir müssen als Gesellschaft unsere Ansichten, was Alter und Lernen angeht, gleich in mehrfacher Hinsicht korrigieren?

Wir sollten unsere Vorstellungen über das Alter und das Altern kritisch überdenken. Oft fällt auf, „alt findet man nur die anderen“. Alt sein ist nicht nur negativ zu sehen. Auch im hohen Alter, bei zunehmender Immobilität und eingeschränktem Bewegungsradius sind Entwicklungsprozesse und Lernen zu erkennen wie der Wunsch, sich produktiv einzubringen und zu helfen. Es geht also um eine realistische Vorstellung vom Alter, ein Bild, das weder überspitzt auf Jugendlichkeit und Aktivität setzt noch ausschließlich Alter mit Abhängigkeit und Pflege gleichsetzt. Von den 80-Jährigen sind zum Beispiel nur etwa 25 Prozent in Pflegeinstitutionen untergebracht. Die Mehrzahl lebt in der eigenen Wohnung.

Das Beste kommt zum Schluss? Länger leben mit deutlich mehr Freiraum bei längerem Ruhestand. Das ist zuerst einmal eine erfreuliche Aussicht.

Ja und zugleich zeigt sich: Das geht – wie in den Lebensphasen zuvor – nicht ohne Planung, ohne persönliche Zielstellung. Die Altersphase, gerechnet ab einem Lebensalter von 50, umfasst inzwischen 30 bis 40 Lebensjahre. Davon sind viele, oft gesunde Jahre zu gestalten. Heute stehen dafür mehr Möglichkeiten zur Auswahl: Einige möchten sich intensiv um ihre Enkel kümmern, andere möchten einen Traum verwirklichen – zum Beispiel ein Café eröffnen oder nebenberuflich noch einmal etwas Neues beginnen, sich für die Gesellschaft engagieren oder einfach das tun, was sie schon immer machen wollten – als Biker durch die Lande touren zum Beispiel.

Oftmals gehen eine Neuorientierung und neue Aufgabenbereiche mit unterschiedlichem Lernbedarf einher. So entstehen in der nachberuflichen Phase vielfältige Lernanlässe oder Lernwünsche. Dafür brauchen wir entsprechende Konzepte und Angebote. Das gegenteilige Szenario wären verbitterte, gelangweilte Alte, die unzufrieden vor dem Fernseher sitzen. In diesem Sinne wurden in der Gerontopsychologie bereits in den 90er-Jahren die Herausforderungen des demografischen Wandels angesprochen, als klar wurde: Altersphase und Lebenserwartung weiten sich stark aus und die Ruhestandphase kann noch einmal so lang werden wie die Arbeitsphase.

Wo sollte Lernen in diesem Lebensabschnitt angesiedelt sein? Welche Infrastruktur eignet sich dafür?

Die Übergänge sind fließend. Deshalb brauchen wir beides parallel – sowohl Angebote von Institutionen im Bildungsbereich als auch niedrigschwellige Formate, die Lernprozesse in Eigenregie ermöglichen. Bildungsangebote für jedes Lebensalter machen beispielsweise die Wohlfahrtsverbände, die Volkshochschulen oder Universitäten. So besteht an vielen deutschen Universitäten die Möglichkeit, als Gasthörer oder Seniorstudent teilzunehmen. Ein spezielles für Senioren konzipiertes Studium findet man hingegen nicht überall. Ein solches Angebot gibt es zum Beispiel an der TU Dortmund.

Sie plädieren dafür, „altersloser zu denken“. Wie ist das gemeint?

Damit meine ich, wir sollten nicht so sehr darauf schauen, wie alt jemand ist. Vielmehr zählt doch, was ein Mensch für Vorstellungen und Ziele hat, wofür er sich einsetzen möchte. Darin sollten wir Menschen jeden Alters begleiten und durch Lernprozesse unterstützen.

Die Fragen stellte Carla Fritz.